Vom Blinden, der einen Vogel fing.

Ein junger Mann heiratete eine Frau, deren Bruder blind war. Der junge Mann wollte unbedingt seinen neuen Schwager besser kennen lernen und fragte ihn daher, ob er Lust habe, ihn auf die Jagd zu begleiten. >Ich kann nicht sehen<, erklärte der blinde Mann. >Aber du kannst mir sehen helfen, wenn wir zusammen auf der Jagd sind. Lass und gehen<.
Der junge Mann führte den Blinden in den Busch. Anfangs folgten sie einem Pfad, den er kannte, und es fiel dem Blinden leicht, hinter seinem Schwager herzugehen. Nach einer Weile gelangten sie jedoch in dichteres Unterholz, wo die Bäume näher zusammenstanden und wo es viele Stellen gab, an denen Tiere sich verstecken konnten. Der Blinde hielt sich nun am Arm seines sehenden Schwagers fest und erzählte ihm einiges über die Laute und Geräusche, die ringsum zu hören waren. Da er kein Augenlicht mehr besaß, hatte er eine besondere Fähigkeit entwickelt, die Laute zu erklären, die von Tieren im Busch erzeugt wurden.
In der Nähe halten sich Warzenschweine auf<, sagte er zum Beispiel. >Ich kann sie da drüben hören<.
Oder: >Dieser Vogel wird gleich losfliegen, ich kann deutlich hören, wie er seine Flügel entfaltet<.
Für den Schwager waren diese Laute bedeutungslos, und er war tief beeindruckt von der Fähigkeit des Blinden, den Busch zu verstehen, obgleich es für ihn eigentlich nichts anderes als eine unendliche Dunkelheit sein konnte.
Sie wanderten mehrere Stunden weiter, bis sie zu einer Stelle gelangten, wo sie ihre Fallen aufstellen konnten. Der blinde Mann folgte dem Rat des anderen und stellte seine Falle an einer Stelle auf, an der sich Vögel zum Wassertrinken einfinden konnten. Der andere Mann stellte seine eigene Falle an einer Stelle ein Stück entfernt auf und verwandte große Sorgfalt darauf, sie zu tarnen, sodass kein Vogel sie sehen konnte. Er hielt sich jedoch nicht damit auf, die falle des Blinden zu verbergen, da es heiß war und er unbedingt zu seiner neuen Ehefrau zurückkehren wollte. Der blinde Mann glaubte, dass der andere seine Falle getarnt hatte, aber er sah nicht, dass dies nicht der Fall war und dass jeder Vogel sofort erkennen konnte, wo die Falle sich befand.
Am nächsten Tag kehrten sie zu der Stelle zurück. Der blinde Mann war ganz aufgeregt, als er sich ausmalte, etwas gefangen zum haben, und der junge Mann musste ihn ermahnen, leise zu sein, damit er nicht alle Tiere verscheuchte. Noch bevor sie die Fallen erreichten, konnte der blinde Mann feststellen, dass sie tatsächlich etwas gefangen hatten.
>Ich kann Vögel hören<, sagte er. >In den Fallen sitzen Vögel<.
Als der junge Mann sich seiner Falle näherte, stellte er fest, dass er einen kleinen Vogel gefangen hatte. Er nahm in aus der Falle und steckte ihn in eine Tasche, die er für diesen Zweck mitgenommen hatte. Dann gingen die beiden Jäger zur Falle des Blinden. >Ein Vogel sitzt darin<, sagte der junge Mann zu seinem blinden Gefährten. >Du hast ebenfalls einen Vogel gefangen<.
Während er das aussprach, spürte er, wie in ihm Neid aufstieg. Der Vogel des blinden Mannes war prachtvoll gefärbt, als wäre er durch einen Regenbogen geflogen und von dessen Farben übergossen worden. Die federn eines solchen Vogels wären für seine Frau ein schönes Geschenk, doch der blinde Mann hatte ebenfalls eine Frau, und diese würde sich auch über die Federn freuen.
Der junge Mann bückte sich und nahm den Vogel des Blinden aus der Falle. Dann, nachdem er ihn schnell gegen seinen eigenen Vogel ausgetauscht hatte, reichte er diesen dem Blinden und verstaute den bunten Vogel in der eigenen Tasche.
>Da ist dein Vogel<, meinte er zu dem blinden Mann. >Du kannst ihn in deine Tasche stecken<.
Der blinde Mann streckte die Hand nach dem Vogel aus und ergriff ihn. Er betastete ihn einen Moment lang und strich mit den Fingern über seine Brust und seine Flügel. Dann, ohne ein Wort zu sagen, legte er den Vogel behutsam in seine Tasche, und sie machten sich auf den Heimweg.
Während des Rückwegs hielten die beiden Männer an, um sich unter einem Baum, der reichlich Schatten spendete, auszuruhen. Während sie dort saßen, unterhielten sie sich über viele Dinge. Der junge Mann war beeindruckt von der Weisheit des blinden Mannes, der sehr viel wusste, obgleich er überhaupt nicht sehen konnte.
>Warum streiten Menschen sich?<, fragte er den Blinden. Es war eine Frage, die ihn schon immer beschäftigt hatte, und er war gespannt, ob der blinde Mann ihm eine Antwort geben konnte.
Der blinde Mann schwieg eine Zeit lang, doch der junge Mann erkannte, dass er nachdachte. Dann hob der blinde Mann den Kopf, und es kam dem jungen Mann so vor, als blickten die leeren Augen direkt in seine Seele. Und ernst antwortete der Blinde:
>Die Menschen streiten sich, weil sie einander das antun, was du eben gerade mir angetan hast<.
Die Worte erschreckten den jungen Mann und beschämten ihn. Er suchte nach einer Erwiderung, aber ihm fiel keine ein. Er erhob sich, ergriff seine Tasche, nahm den bunten Vogel heraus und reichte ihn dem blinden Mann.
Der blinde Mann nahm den Vogel entgegen, strich mit den Fingern über sein Gefieder und lächelte.
>Hast du noch eine Frage, die ich dir beantworten soll?<, wollte er von seinem Gefährten wissen.
>Ja<, sagte der junge Mann. >Wie kommt es, dass Menschen zu Freunden werden, nachdem sie sich gestritten haben?<
Der blinde Mann lächelte wieder.
>Weil sie manchmal das tun, was du soeben getan hast<, erwiderte er. >Das macht sie wieder zu Freunden.<
Aus: Das Mädchen, das einen Löwen heiratete von Alexander McCall Smith