Die Meise

DIE MEISE Könnte ich dir sagen, kleine Meise, wie ich dir so wohl gesonnen bin! Lockend vor denn Fenster liegt die Speise, doch du Ängstliche wagst dich nicht hin. Und wie oft du hurtig angeflogen, zitternd zwischen Bängnis und Begehr, jedesmal hat's dich zurückgebogen und gezwungen doch zur Wiederkehr. Immer wohl im winzigen Flügelleibe wird das Herz dir vor Erschrecken kalt, siehst du durch die unbegriffne Scheibe düster meine riesige Gestalt. Jetzt! Im Fluge griffest du die Beute, birgst sie flink im Zweigicht und Genist. Wüsstest du, dass ich die Nahrung streute, ohne Feindschaft, ohne Hinterlist, dass du Gerngeschenktes fortgetragen, fürchtig wie gestohlenen Gewinn - kleine Meise, könnte ich dir sagen, wie ich dir so wohl gesonnen bin! Ach, es bangte dir vor keinem Zorne, kämest wie der fromme Hund zum Herrn, selig schmaustest du von fettem Korne und der Sonnenblume süßem Kern. Ihr in Wipfeln und in grauen Nestern, ruhelos zwischen Flucht und Schmaus: Kleine Meisen, meine scheuen Schwestern, wie getreu sprecht ihr mich selber aus! Allenthalben ist mein Tisch gerichtet, weißes Brot und schwarzer Wein im Krug. Süß und bitter ward mir zugeschichtet, und der große Wirt ist ohne Trug. Ach, es bangte mir vor keinem Grimme, und mich drückte keine Kümmernis; ach, verstünde ich nur seiner Stimme stille Ladung: Nimm getrost und iss.
Autor: Werner Bergengruen